Dienstag, 9. Juni 2015

Äthiopien zwischen gestern und morgen



Die Stadt Addis Abeba gibt es eigentlich erst seit 120 Jahren. Kaiser Menelik schlug hier einst sein Lager auf. Noch in den 1950er Jahren galt der Ort als grüne Gartenstadt mit zahlreichen Bungalows. Inzwischen ist Addis Äthiopiens bedeutendster Industriestandort mit einem rapiden Wachstum. Addis Abeba ist für viele ein Versprechen auf ein besseres Leben. Vor allem die verarmte Landbevölkerung zieht es in die Stadt und landet meist in einem Slum.



Wenn Tesfaye Tefera (22) aus der Hütte auf die Straße tritt, steht er vor dem Abfluss der nahegelegenen Gemeinschaftslatrine. Deren Abwässer fließen direkt vor ihrer Haustür entlang. „Es stinkt“, sagt Tesfaye, den alle nur Professor nennen, weil er in der Schule sagte, er wolle Professor werden. „Damals dachte ich, es sei ein eigener Beruf, den man lernen könne“, lacht er. Doch Tesfaye ist nicht wählerisch. Er ist in Kirkos geboren, einem Slumviertel in der Mitte der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Seine Mutter, Mebrat Gashaw, stammt vom Land. Von dort wollte sie weg.  Leben auf dem Land heißt leben ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Maschinen gibt es nicht. Die Felder werden mit der Hacke bestellt, das Korn mit der Kraft der Ochsen gedroschen. Es ist ein Leben wie vor 100 Jahren. Als älteste Tochter musste sie sich sowohl um  die Felder als auch um den Haushalt und ihre Geschwister kümmern. „Das war schwer. Zu schwer für eine 17 Jährige“, erinnert sie sich. Seitdem wohnt sie in einer der zahlreichen Wellblechhütten in Kirkos. Zehn Quadratmeter für sich, den Sohn und die Tochter, und im kleinen Innenhof ist Platz für ein paar Hühner. Als ihr Mann, der sich als Tagelöhner auf Baustellen verdingte, vor acht Jahren starb, wurde das Leben noch ein Stückchen schwerer. Um sich und die kleine Familie zu ernähren, verkauft Mebrat selbstgebrautes Bier. So wie Mebrat und Tesfaye leben viele Menschen in Kirkos. Laut offiziellen Angaben rund 235 Tausend Menschen. Und es werden täglich mehr. Denn in Äthiopien wird das Land knapp.  Schon jetzt leben auf dem Hochland Familien vom Ertrag eines halben Hektars. „Da die Familien meist mehrere Kinder haben, bleibt für die Erben nicht mehr viel übrig“, sagt Yohannes Belay, Berater der Welthungerhilfe am Horn von Afrika. „Das Land lässt sich nicht mehr teilen“, sagt er. „Die Wälder, die noch vor rund 100 Jahren die Hälfte des Landes bedeckten, sind gerodet.“  Als einziger Ausweg erscheint vielen die Hauptstadt Addis. Die äthiopische Hauptstadt ist wie ein großes Versprechen auf ein leichteres Leben. Während die Landbevölkerung bei rund 80 Prozent stagniert (laut Angaben der Central Statistic Agency), wächst die Stadt. 2007 lag die Einwohnerzahl bei 3,5 Millionen Menschen. Mittlerweile zählt sie rund 7 Millionen. Mit einer Verdopplung wird alle sieben Jahre gerechnet. Groß und bunt ist die Stadt. Es gibt Strom, glitzernde Fassaden aus Stahl, Beton und Glas und die Versprechungen der Moderne. Überall wird gebaut. Neue Viertel entstehen quasi über Nacht. Addis wird Afrikas erste Stadt mit einem City Train sein. Die Gleise sind verlegt. Die Oberleitungen sind fertig. Zur Wahl des Premiers am 24. Mai sollen die Züge rollen. 60 Tausend Menschen können so pro Stunde in die Stadt gebracht werden und die chronisch verstopften Straßen entlasten. „Neue Blume“ heißt Addis Abeba in der amharischen Landessprache, und fast scheint es so, als könne das Neue  nicht schnell genug gehen. Erste Anlaufstelle für  die vielen Zuwanderer ist Kirkos.  Denn in Kirkos ist das Leben noch günstig. Ein Zimmer kostet hier rund 600 Birr (30 Euro) im Monat, erzählt Tesfaye. Kleine Geschäfte, Garküchen, Marktstände reihen sich aneinander. Mancher Laden ist kaum größer als zwei Quadratmeter.  „Wenn wir einkaufen dann hier“. Tesfaye zeigt auf den kleinen Marktstand von  Zenebech Hailemariam (52). Getreide und Gewürze hat sie im Angebot. Die Waren hat sie sich auf dem Großmarkt besorgt, mit einem Mikrokredit, den sie pünktlich abbezahlt. „Verkaufen macht Spaß“, sagt sie und hat auch eine ganz spezielle Idee, um Kunden zum Kauf zu bewegen. „Ich erzähle, wie toll meine Waren sind, und wer viel kauft, bekommt von den Gewürzen etwas geschenkt“. Die schwere Zeit, als ihr Mann starb und  sie nicht wusste, wie sie die Kinder ernähren sollte, liegt hinter ihr. Damals wollten die Kinder nicht in die Schule gehen, weil sie nichts zu essen hatten“, sagt sie leise. Wer neu in Kirkos ist fängt meist als Losverkäufer  oder Zigarettenhändler an“, weiß Tesfaye. Die findet man an jeder Straßenecke. Tesfaye hat Glück und ein Armband mit den Bildnissen der Apostel um das Handgelenk. Das gibt mir Kraft“, sagt er. Er macht in einem Krankenhaus eine Ausbildung zum Radiologietechniker. Sein Viertel hat ihn, weil er Halbwaise ist, für ein Sozialprogramm bei Wabe Children Aid und Training vorgeschlagen, eine Sozialorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit Jugendlichen eine Lebensperspektive ohne Hunger zu entwickeln. 40 Tausend Kindern konnte so, seit Gründung der Organisation 1997, bereits ein besserer Zugang zu Bildung und Gesundheit ermöglicht werden“, erklärt Mestika Negash von Wabe. „Wir halten hier im Viertel zusammen“, sagt Tesfaye stolz.  Wenn jemand krank ist, dann bekommt er Besuch von einem Nachbarn. Doch Kirkos ist bedroht und damit auch das gewachsene Sozialgefüge der hier lebenden Menschen. Zwischen City Train und dem neuen Hochhaus der Afrikanischen Union gelegen weckt das Gebiet Begehrlichkeiten. Neuer Wohnraum für das neue Addis soll hier entstehen. Die Bagger haben bereits mit den Abbrucharbeiten begonnen. Die  bisherigen Bewohner sollen umgesiedelt werden – in Wohnblöcke am Rande der Stadt. Tausende dieser Neubauten sind zur Zeit am Entstehen.  Dafür gibt es günstige Kredite. Die Gewürzverkäuferin hat  bei den Verwandten um Hilfe nachgefragt. „Das Startkapital ist zusammen“, sagt sie erleichtert. Doch nicht jeder wird die Raten zahlen können. Auch die Mutter von Tesfaye hofft auf eine kleine neue Wohnung. Die will sie mit  dem Verkauf von Hühnern finanzieren. „Ein bisschen zu optimistisch?“, fragt Tesfaye mit bangem Blick und gibt sich die Antwort hierfür selbst: „Manchmal kann Äthiopien wie die Hölle sein.“   Doch der Strom der Zuwanderer vom Land ist ungebrochen. Täglich zieht es mehr Menschen aus allen Landesteilen in die Stadt. Arbeit ist schwer zu finden. Die Perspektive, dass man in der Millionenstadt auch scheitern könnte, schreckt die Zuwanderer nicht. „Alles ist besser als ein Leben auf dem Land“, heißt es. Nahezu die Hälfte der äthiopischen Bevölkerung ist von  Hunger und Unterernährung betroffen. „Die letzte große Dürre 2011 konnte das Land nur dank großer Nahrungsmittelreserven überstehen“, so Belay  von der Welthungerhilfe. Hunger ist daher noch immer ein großes Thema in Äthiopien. „Wenn die Menschen etwas zu essen haben, sind sie zufrieden“, sagt Belay.  Die Frage was sein könnte, wenn essen allein nicht mehr reicht, wagt sich Belay nicht zu stellen. Noch ist die Lage ruhig und Äthiopien bekannt für das friedliche Miteinander seiner Kulturen und Religionen. „Noch“, sagt Belay. Wo Tesfaye zukünftig mit seiner Mutter leben wird, weiß er nicht. „Ich werde für meine Mutter sorgen, so wie sie für mich gesorgt hat“, sagt er, „ich bete dafür jeden Tag.“ Und zur Bestätigung tippt er mit dem Finger auf die Apostel.

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