„Das ist Arielle“, sagt Tierarzt Nicki Schirm und deutet auf ein
Schwein kapitaler Größe, das so gar nicht zum Bild einer grazilen Meerjungfrau
passen will. Daneben Maggi die Wildsau, die als Frischling von Arielle quasi
adoptiert wurde, sich nun das Gehege mit ihr teilt und entspannt in ihrer Suhle liegt. Dann stellt er die weiteren Bewohner des
Hanauer Tierrefugiums vor, einer Einrichtung die verstoßene und ausgesetzte
Tiere aufnimmt. Schirm kennt jedes Tier bei Namen. Es ist ein friedliches
Zusammenleben von Ziege, Schwein und Schaf, die alle das gleiche Schicksal teilen. „Was
macht unser Schätzchen?“, fragt er schließlich. Mit Schätzchen ist ein Schaf gemeint, das
eigentlich „Flöckchen“ gerufen wird, und das an der Sterngucker Krankheit
leidet. Eine Vitamin B- Mangelerkrankung die zwar tödlich enden kann, aber mit
Medikamenten heilbar ist. Nicki Schirm ist Landtierarzt mit Praxis im
hessischen Langenselbold und kümmert sich überwiegend um Nutztiere, wie
Schweine, Rinder, Schafe und Ziegen. Seit er mit dem Fernsehsender VOX über 120
Sendungen in der Dokusoap „Menschen, Tiere und Doktoren“ drehte, zählt er zu
den bekanntesten Tierärzten in Deutschland.
Jetzt hat er ein Buch geschrieben.
„Ein Doktor und ´ne Menge Vieh“, so
der Titel des Werkes, das mehr ist als nur eine Dokumentation von Praxisfällen.
Seit 26 Jahren betreibt Schirm, der eigentlich von der
schwäbischen Alb stammt, eine Landtierpraxis im Hessischen. „Als ich anfing gab
es noch viele Bauern im Ort und näherer Umgebung.“ Jetzt fährt Schirm bis nach
Bayern oder ist im ganzen Landkreis unterwegs. Das Sterben der Höfe hat er aus
nächster Perspektive miterlebt. Und auch die Auswirkungen der sogenannten
Herodesprämie. Eine Sonderzahlung für
das frühzeitige Schlachten von Kälbern unter 20 Tagen. Weil diese aber in
Deutschland nicht zulässig war, schafften Bauern ihre Jungtiere ins benachbarte
Ausland. Rund 250 DM zahlte die EU Ende
der 1990er Jahre pro Kalb. Allein aus Deutschland wurden rund 120000 Tiere so
zu Tiermehl, Hunde – oder Katzenfutter verarbeitet. Ein Umgang mit Tieren, der
für den Tierarzt ein Alptraum ist. Doch nicht nur EU Verordnungen setzen dem
Berufstand zu. Großbetriebe, die zur industriellen Fleischproduktion übergangen
sind und Tierärzte nur noch als Lieferanten von Arzneimitteln betrachten,
wiedersprechen dem Verständnis von gesundem Aufwachsen und Wohlergehen der
Tierbestände. Entwicklungen die für einen Mann, der mit Leib und Seele für die
Tiere da ist, schwer zu ertragen sind. Landtierpraxen wie Schirm sie betreibt,
sind die letzten einer vom Aussterben bedrohten Art und werden oft als Feuerwehrtierärzte
gesehen. Das Telefon ist immer dabei. „Ich
bin 24 Stunden rund um die Uhr im Dienst“, sagt er. Bei einem nächtlichen Anruf
bin ich beim dritten Klingeln gesprächsfähig“. Dann heißt es raus. Unfälle mit
Tiertransportern auf der Autobahn gehören genauso zum Alltag wie das Bergen von
verbrannten Tieren, das Einfangen eines entlaufenen Rindes, oder
lebensbedrohlichen Koliken.
Und doch gibt es trotz aller Auswüchse und Katastrophen noch etwas
anderes, das sich schwer beschreiben lässt. Dieses Andere sind Geschichten vom Wunder des Lebens. Geschichten
vom Laufen auf Wolken, und dem Eintreffen des Unwahrscheinlichen.
An einem Nachmittag wird
der Tierarzt zu einem Kälbchen gerufen, das nahezu leblos auf der Weide liegt.
Die aufgeregte Mutterkuh daneben. Um nicht von der Mutter attackiert zu werden,
schließlich wollen diese ihre Nachkommen schützen, zeigt Schirm ihr die Instrumente.
Die Kuh betrachtet und beschnuppert diese und macht schließlich den Weg frei
für die Behandlung. Nachdem das im Sterben liegende Kalb gerettet werden
konnte, trotten beide von dannen. Und dann geschieht das Unglaubliche. Sie
kommen zurück und schauen den Tierarzt bedeutungsvoll an. „Die hat sich doch
eben bei dir bedankt“, meint der Kameramann erstaunt.
Nur eine Geschichte von vielen , aber eine die ermutigt Tiere als
Persönlichkeiten zu sehen. „Wer Nutztiere nur als Produktionsfaktor betrachtet,
hat es auch schwerer mit der Tiergesundheit“, sagt Schirm. So gesehen sind die
„Geschichten eines Landtierarztes“, auch ein Nachruf auf jene Bauern, die sich
um artgerechte Haltung bemühen und Bestätigung für Jene die sagen“: Tiere sind
auch nur Menschen“.
„Wenn unsere Tiere auf der
Weide liegend wiederkäuen verströmen sie
eine Ruhe und Zufriedenheit die ich bei
Menschen meist vermisse“, sagt Schirm.
Die Lesung zur Buchpremiere war schon kurz
nach Bekanntgabe ausverkauft. Der Erlös geht, wie könnte es anders sein, an das
Hanauer Tierrefugium.
„Ein Doktor und ´ne Menge Vieh“ ist im
Rowohlt Verlag erschienen. 298 Seiten zum Preis von 8,99 Euro (ISBN 978 3 499
62953 2).
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